Auch das Leben im Ilgenpark war wie an den beiden anderen Standorten im Jahr 2023 geprägt von engagierten Projekten, neuen Errungenschaften, fröhlichen Festen und ganz viel ruhiger Alltagsbeschäftigung. Bei aller Planung, Weiterentwicklung und Implementierung von Neuem ist uns die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein wichtiges Anliegen. Mit zwei Beispielen geben wir Einblick, wie das Recht, «gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen» (Art. 30 UN-BRK) gelebt wird.

Jedes Jahr habe er die «Street Parade» in Zürich am Fernsehen verfolgt und jedes Jahr habe er sich geschworen: «Da möchte ich mit dabei sein!», erzählt Benjamin. 

Nachdem die pandemiebedingten Schliessungen endlich der Vergangenheit angehören, plante Benjamin zusammen mit seiner Wohngruppe ein halbes Jahr lang aktiv die Teilnahme. 

Als Polizist im Stile der Sechziger-Jahre verkleidet und zusammen mit zwei Begleitpersonen startete das Erlebnis mit dem Zug aus Schaffhausen kommend mitten in der Zürcher Innenstadt. Je näher Benjamin im Rollstuhl dem Seebecken kam, desto dichter wurde die Menschenmenge. Er habe die anderen Besuchenden um sich herum beobachtet, Fotos geschossen und gefilmt, erzählt Benjamin. Eine Frau sei auf ihn zugekommen und habe ihn «abgeknutscht», berichtet er lachend, «sie war mega hübsch, die Frau».

Als Rollstuhlfahrer inmitten der tanzenden Menge stellte er eine Besonderheit dar. Und diese Sonderstellung hat er sehr genossen. «Ich habe viele Gschänkli bekommen. Einen Fächer, ein Halstuch, und eine Blumenkette hat mir jemand um den Hals gehängt.» Kontaktscheu sei ihm gegenüber niemand gewesen, im Gegenteil. «Die Leute sind an mir vorbeigegangen. Ich habe die Hand gehoben und sie haben abgeklatscht». 

Es scheint ein einfaches Unterfangen, auch im Rollstuhl volle Teilhabe inmitten der Street Parade zu haben. Weniger hingegen, aus der Menge wieder herauszufinden. Glücklicherweise fand sich eine Frau, die ihnen eine rollstuhlbreite Schneise durch die Menschenmenge getanzt hat, um so sicher zum Bahnhof zurückzukehren. Aus Benjamins Perspektive hatte es sogar einen Bonuspunkt, im Rollstuhl zu sitzen, denn alle Restaurants boten am Grossanlass maximal einen Take-Away-Service an. «Als wir am Schluss zu McDonald’s gingen, konnte ich bequem im Rollstuhl sitzen. Alexandra und Olav mussten auf dem Boden Platz nehmen.» Pläne für einen weiteren Besuch der Street Parade hat Benjamin bereits: «Nächstes Jahr möchte ich oben auf einem Wagen mitfahren. Dort, wo die Techno-Musik aus den Boxen dröhnt und wo die Leute tanzen».

Auch Renato zehrt weiterhin von seinen Erlebnissen an einem grossen Festival. Die Mitarbeitenden seiner Wohngruppe erzählen, dass er als Sohn italienischer Einwanderer immer schon ein Faible für die Musik von Zucchero hatte. Als der Künstler im Sommer 2023 am Schaffhauser Festival «Stars in Town» auftreten sollte, war die Idee geboren, Renato einen Konzertbesuch zu ermöglichen. Die Planung erwies sich gemäss Ewelina, seiner Begleitperson, in vielerlei Hinsicht als herausfordernd. 

Die Tickets lagen mit über hundert Franken deutlich über dem, was Renato pro Monat für Freizeitvergnügen zur Verfügung hat. Für die Begleitperson musste ein weiteres Ticket finanziert werden. Zudem lebt Renato mit einer Autismus-Spektrum-Störung und meidet im Normalfall Menschenansammlungen. Daher musste ein Besuch gut vorbereitet sein. 

Renatos Familie legte für ein Konzertbillett zusammen und für die Begleitperson konnte dank eines Sponsors ein Eintritt finanziert werden. Nach einigem Hin und Her war auch ein Sitzplatz auf der Rollstuhltribüne gesichert. Gemäss Ewelina war es dieser, von den Menschenmassen abgegrenzte Raum, welcher Renato Sicherheit und einen vollen Konzertgenuss bescherte. Jeder Gang durch die Menge hindurch, sei es, um ein Getränk zu kaufen, sei es, um aufs WC zu gehen, bedeutete puren Stress für Renato. Ewelina spürte dies an seinem festen Händedruck. Da man ihm seine Behinderung nicht ansehe, war nicht mit einer besonderen Rücksichtnahme durch das Festivalpublikum zu rechnen. Wiederholt fragte sie Renato während des langen Abends, ob er sich wohl fühle oder ob sie das Konzert verlassen sollen. Da war Renato aber bereits von der Musik gepackt! «Niente» war seine immerwährende Antwort. Sie blieben bis zum ultimativen Schluss. Und im Bus auf dem Heimweg und während des folgenden Tages klatsche Renato weiterhin mit den Händen und erklärte jedem freudestrahlend seine rhythmischen Bewegungen mit: «Zucchero!»

Als die Wohngruppe vier Monate später eine Einladung zum Weihnachtsgottesdienst mit musikalischer Untermalung erhielt, fragte Ewelina Renato, ob er mit an das Weihnachtskonzert gehen wolle. Seine Augen strahlten und er blicke sie fragend an: «Zucchero?» Beide mussten darüber lachen, wie sehr sich die positive Erinnerung an das Musikfestival in ihr Gedächtnis gebrannt hat.