Interview mit Dr. Christiane Roth, Stiftungsratspräsidentin, und Marco Camus, Vorsitzender der Geschäftsleitung, Stiftung Ilgenhalde. 

Interview: Stephanie Smith, Redaktion: artischock.net

Christiane, was konntest du in deiner Funktion als Stiftungsratspräsidentin bewirken?

Christiane Roth, Stiftungsratspräsidentin: In den Pandemie-Jahren blieb vieles in Wartestellung, das eigentlich schon lange geplant war und im Frühling wieder aktuell wurde: Kommunikationskonzept, Fortbildungsveranstaltungen, Haltungsfragen, die Entwicklung von Führungsgrundsätzen. Das sind alles Folgen der neuen Organisation, die wir 2019 eingeleitet haben und die durch die Pandemie gebremst wurde.

Marco Camus, Vorsitzender der Geschäftsleitung: Wir konnten agogisch-konzeptionell viel angehen: Wir haben Konzepte überarbeitet und modernisiert, auch im Hinblick auf Teilhabe unserer Klientinnen und Klienten, damit sie partizipieren, mitentscheiden können.

CR: Mitentscheiden, was für sie im Alltag sinnstiftend ist und was ihnen Freude bereitet.

MC: Dank der Aufhebung der bewegungseinschränkenden Massnahmen ist alles wieder offen, auch in der Tagesstruktur. Unsere Klientinnen und Klienten können auswählen, welche Arbeiten sie machen möchten. Da konnten wir viel bewirken. Wir konnten mit den Leuten wieder in den Dialog treten, uns physisch treffen. Man sieht sich wieder und tauscht sich aus.

CR: Auch das Ilgenhalde-Fest fand nach zwei Jahren Unterbruch im Sommer wieder statt. Das sind alles Gelegenheiten, wo man miteinander ins Gespräch kommt und sich austauschen kann. Was ist gut? Wo fehlt es? Du siehst: Sind die Leute zufrieden? Der persönliche Austausch, die Möglichkeit, sich zu sehen, sich zu treffen – das ist etwas anderes als nur per Mail.

MC: Das gilt auch für die interdisziplinäre Zusammenarbeit unter den Standorten. Wir konnten einiges fortführen, das wir vor drei Jahren unterbrechen mussten. Zum Beispiel das Projekt «15 Plus», die Planung des Übergangs von der Schule in den Erwachsenen-bereich. Das ist etwas, was am Schluss der Klientel zugutekommt, weil sie einen Bogen hat vom Eintritt in die Ilgenhalde bis zum Übertritt in den Ilgenpark oder das Ilgenmoos.

Wie sieht die Vision für die Stiftung aus in Bezug auf Wirkung?

CR: Wir machen jetzt einen Strategieworkshop – ein Teil wird sicher sein, dass wir unsere Visionen anschauen und neu definieren. Das ist nicht etwas, was einmal gemacht wird und dann steht es – es muss mit Leben gefüllt werden.

MC: Ich stelle fest, dass wir wieder auf unseren Kernauftrag zurückkommen – das ist eine sehr positive Entwicklung. Unsere Mitarbeitenden merken, dass wir eine Verantwortung haben unseren Klienten und Klientinnen gegenüber, wir haben einen Versorgungsauftrag. Wir sind auf einem guten Weg, diesen Auftrag wieder besser wahrzunehmen. Zuletzt mussten wir andere Prioritäten setzen, wir mussten auf den Schutz der Klientel schauen. Das ist uns sehr gut gelungen. Aber wir hatten weniger Zeit, auf ein tragfähiges Umfeld zu schauen.

CR: Die UNO-Behindertenrechtskonvention hat zum Ziel, dass jeder Mensch sein Leben möglichst autonom führen kann. Wir müssen schauen: Können wir die Grenzen, die wir setzen, erweitern? Wie weit kann die Klientin, der Klient möglichst viel mitbestimmen und mitentwickeln, die eigenen Bedürfnisse äussern? Unser Ziel ist, den Menschen nicht einfach als Individuum, wie es eingetreten ist, zu begleiten, sondern ihm zu ermöglichen, sich weiterzuentwickeln. Immer, über die ganze Zeit.

MC: Damit das möglich ist, brauchen wir die passende Infrastruktur, geschulte und motivierte Mitarbeitende. Auf all diesen Ebenen sind wir dran. Ich denke, dass wir den grossen Vorteil haben, über Ressourcen zu verfügen, die uns viel ermöglichen.

Nicht alle können sich ja verbal äussern – wie werden diese Grenzen überwunden?

CR: Es gibt auch non-verbale Kommunikation. Die ist in unserer Situation noch wichtiger als die verbale Kommunikation. Es gibt Austauschmöglichkeiten, zum Beispiel mit Piktogrammen. Wir können so auch die Möglichkeit geben, mit Piktogrammen zu antworten.

MC: Oder indem man ihnen einen Raum schafft, in dem sie sich so bewegen können, dass sie relativ autonom sind, ohne sich zu gefährden. Beispielsweise ermöglicht ein Zaun, dass sie die Gruppe verlassen können, ohne auf die Strasse zu treffen. Im Ilgenmoos können sie mit der Anpassung des Schliesssystems selbstständig von der Tagesstruktur durch den Garten ins Wohnen. So können wir Autonomie zugestehen, müssen aber keine Angst haben, dass die Klientinnen und Klienten sich ge-fährden. In dem Dilemma sind wir immer: Wir haben den Druck, sie einerseits schützen zu müssen, wollen andererseits, dass sie möglichst autonom sind. Das ist eine Gratwanderung: Was ist noch legitim, was können wir verantworten? Wo müssen wir Freiheiten einschränken?

Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit Eltern?

CR: Bei den Kindern natürlich eine grosse, Erwachsene haben zum Teil gar keine Eltern mehr. Jene, die man einbeziehen kann und die sich interessieren, nimmt man mit.

MC: Man muss unterscheiden: Im Kinder- und Jugendbereich involvieren wir die Eltern stark, weil wir glauben, dass wir nur ein Teil des Systems sind, in dem die Kinder aufwachsen, und die Familie ergänzen, nicht ersetzen. Darum ist es zentral, dass wir auch die Eltern mitnehmen und auch ernst nehmen mit den An-liegen, die sie haben. Im Erwachsenenbereich geht es darum, mit den Eltern den Weg zu finden, dass ihre Kinder jetzt erwachsen sind.

CR: Da muss ein Loslösungsprozess stattfinden. Erwachsen sein heisst ja auch, sich aus einer gewissen Abhängigkeit von den Eltern zu lösen, ohne dass die Beziehung in Frage gestellt ist.

MC: Da braucht es auch mal eine Begleitung durch unsere Leute. Das ist ein wichtiger Prozess, der nicht nur bei unserer Klientel nicht immer ganz einfach ist. Auch da erzielen wir eine Wirkung und fördern am Schluss eine gesunde Beziehung zwischen Eltern und Kind.

Besten Dank für das Gespräch.